Grün-As

Sich Zeit nehmen und Gefühle nicht unterdrücken

Wir stellen vor: Karin Hartmann

Der Jugendnotdienst in Grünau. Eine der simplen Grundwahrheiten, die aber erst dann voll ihre Bedeutung entfaltet, wenn ich sie ernst nehme, ist: jeder Mensch ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit gilt es immer wieder neu zu entdecken; vorurteilslos und offen an jeden Mitmenschen herantreten und neugierig sein, wie gerade dieser Mensch ist.

Genau das ist der Schlüssel in der täglichen Arbeit von Karin Hartmann. »Seit November 1991 bin ich im Jugendnotdienst tätig und seit dieser Zeit haben wir über 5800 verschiedenen Jugendlichen in unserer Einrichtung geholfen«, sagt Karin Hartmann über ihre tägliche Arbeit und erläutert: »Der Jugendnotdienst ist eine Einrichtung des Jugendamtes der Stadt Leipzig. Unsere Einrichtung hier in Grünau sowie der Kindernotdienst im Stadtteil Mockau erfüllt kommunale Plichtaufgaben, die sich aus dem Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG, jetzt Sozialgesetzbuch VIII) ergeben, und hier ist es insbesondere der §42, die Inobhutnahme. Einfach ausgedrückt, wir sind eine Einrichtung für Jugendliche in Krisen und für deren Eltern.«

Wer Frau Hartmann, dieser charmanten Grünauerin, zum ersten Mal gegenübertritt, der wird zuerst ihre ausgeglichene, beruhigende Ausstrahlung und zugleich ihre innere Stärke wahrnehmen und die Forschungsergebnisse des britischen Neuropsychologen David Weeks bestätigt finden, wonach Menschen etwa zehn Jahre jünger wirken, wenn sie viel mit jüngeren Leuten zu tun haben.

Karin Hartmann, Pädagogin - ausgebildet am Institut für Lehrerbildung Leipzig - und staatlich anerkannte Sozialarbeiterin, beschreibt die Anforderungen an Mitarbeiter im Jugendnotdienst: »Auf jeden Fall persönlich engagiert, dienstlich vor privat. Du wirst als ganze Person und Persönlichkeit gefordert, du mußt dich immer selbst in der Gewalt haben, denn du willst und sollst Beistand geben. Du brauchst Herz und Ohr und du bist glücklich, wenn’s funktioniert, kannst Kraft aus dem was klappt schöpfen.«

Auf die Frage: Wie kann sich Otto-Normalverbraucher die Arbeit im Jugendnotdienst vorstellen? antwortet Frau Hartmann: »Für Eltern und Jugendliche und umgekehrt sind wir immer ansprechbereit, rund um die Uhr. Wir bieten ambulante und stationäre Hilfe, sowie telefonische Beratung (Sorgentelefon wie Seelsorge, auch anonym). Unser Tätigkeitsfeld sind vorübergehende Fälle, bis eine Lösung gefunden ist. Das ist vergleichbar mit einer Intensivstation im Krankenhaus, wonach der Patient im Anschluß erst noch auf anderen Stationen weiterbehandelt wird und dann am Ende wieder gesund ist.«

»Ein Beispiel: Die Aufnahme bei uns - auch nur stundenweise - erfolgt überwiegend nachts. Von der Polizei werden Jugendliche aufgegriffen und zugeführt. Danach wird das Jugendamt informiert, welcher Jugendliche in Obhut genommen wurde, und es erfolgt eine Information an die Eltern zur Beruhigung. Das Jugendamt entscheidet nach KJHG über Varianten der optimalen Lösung zur Einzelfallhilfe.«

»Unsere Hilfe nehmen zum Beispiel Jugendliche an, die Konflikte mit Eltern haben, weil sie sich falsch verstanden fühlen, und wir bieten auch Trebegängern - Ausreißern - Halt und Hilfe. Für die Eltern vermitteln wir, führen erst getrennte Gespräche - wie ein Dolmetscher, der Menschen mit unterschiedliche Sprachen verbinden kann - bahnen an und ermöglichen das Zurückführen von Jugendlichen nach Hause, für die, die nicht mehr auf der Straße leben wollen.«

Dann ergänzt die Sozialpädagogin: »Manche wollen sich nicht helfen lassen. Zum einen auch Eltern: aus Scham, nach dem Schema: für uns ist es eine Schande, dass unser Kind hier und so ist, wie es ist. Zum anderen bei den Jugendlichen, sie sind zum Teil machtlos gegen Gruppenzwang der Clique, und manche von den Jugendlichen nehmen Hilfe nicht an, weil der Leidensdruck aus Ihrer Sicht nicht groß ist.«

Auf die Frage: »Was können Eltern tun, damit ihr Kind bzw. ihre Kinder nicht an den Rand der Gesellschaft geraten, und damit der Notdienst nicht eingreifen muß?« empfiehlt Karin Hartmann: »Auf jeden Fall die Jugendlichen ernst nehmen, Veränderungen am (heranwachsenden) Kind nicht übergehen. Wichtig ist, sich Zeit nehmen. Zeit nehmen für Gespräche, die Jugendlichen reden lassen von ihren Erwartungen und von ihren Befürchtungen. Die Gefühle nicht einfach abtun, nach dem Motto: ’Du hast ja noch keine Probleme…’. Kinder werden nebenbei groß und eben doch nicht nur nebenbei, deshalb sind gemeinsame Erlebnisse, wichtig, Höhepunkte und selbst ein gemeinsames Frühstück.«

ImageLink Es ist noch nie eine einfache Aufgabe gewesen, Eltern zu sein, ist man doch mit dem Schutz und der Entwicklung des menschlichen Lebens betraut, und zum Glück hat jeder Mensch alle nötigen Fähigkeiten und Erfahrungen in sich, um alle Situationen zu bewältigen. Eine der simplen Grundwahrheiten ist: jeder Mensch ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit gilt es immer wieder neu zu entdecken. Das bedeutet: vorurteilslos und offen sein, auch und besonders für das eigene (heranwachsende) Kind und neugierig sein, wie gerade dieser Mensch ist. Dann muß auch der Jugendnotdienst nicht eingreifen.

Thomas H. Kokot
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