Grün-As

Editorial

Liebe Leserinnen und Leser, mit dem 20. Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober endet für die Menschen in dieser Republik das Jubiläumsjahr der politischen Wende in der ehemaligen DDR. Für Viele hierzulande sind die Geschehnisse, die mit der Massenflucht über Ungarn und Prager Botschaft im Spätsommer und mutigen Demonstrationen im Herbst '89 ihren Anfang nahmen, lebendig geblieben. Kaum einer diesseits der »Mauer«, der nicht mehr weiß, was er beim Fall derselbigen getan, gedacht, gefühlt hat. Beinah überfordert von Reise-, Wahl-, individueller oder gemeinschaftlicher und noch allerhand anderer Freiheiten, taumelten die Deutschen im Osten durch eine turbulente Zeit.

Auch wenn mit dem Abstand von zwei Jahrzehnten, die geschichtlichen Ereignisse von einst nicht mehr ganz so euphorisch betrachtet werden, ist für die Meisten dieses eine Jahr zwischen erstem zaghaften Widerstand und der Unterzeichnung des Einigungsvertrages eine Zeit, in der alles möglich schien - so aufregend, so voll von kleinen und großen Siegen, erstrittenen Rechten, Erkenntnissen, Erlebnissen, aber auch bitteren Enttäuschungen, verpassten Chancen und persönlichen Niederlagen.

Was die Bürger im Osten der Republik bis heute im kollektiven Bewusstsein des eigenen Erlebens mehr oder weniger zusammenschweißt, hat die im Westen wahrscheinlich zwar anfangs erstaunt, neugierig gemacht und vielleicht sogar Respekt abgenötigt, aber die räumliche und ja sogar auch inhaltliche Distanz zu den Ereignissen haben sie von vornherein ausgeschlossen. Die Masse bevorzugte eine Teilhabe - wenn überhaupt - via Bildschirm und spätestens mit der Währungsunion war bei ihnen die Begeisterung für den gesellschaftlichen Salto, den ihre wiedergewonnenen Landsleute schlugen, verflogen.

Dies ist nur eines von unzähligen, lieb gewonnen Ressentiments, die Ost gegen West hegt - umgekehrt mögen es ebenso viele sein. Hier die ewig unzufriedenen Ossis, da die ignoranten Wessis - zwanzig Jahre nach dem bürokratischen Vollzug der deutschen Einheit scheinen die Gräben so tief wie ehedem. Beinah noch tiefer. Vorwürfe, Befindlichkeiten und Vorurteile lassen die wahre Bedeutung der Ereignisse in den Hintergrund treten. Nicht nur, dass es sich um die erste friedliche Revolution auf deutschem Boden handelte. Viel mehr, haben die Bewohner der ehemaligen DDR, die dem Ruf des schnellen Geldes widerstanden und in ihrer Heimat blieben, zwischen dem 9. Oktober 1989 und dem 3. Oktober 1990 den Hauch einer echten Demokratie gespürt. Die Herrschaft des Volkes - bewusst oder unbewusst eingeleitet mittels vier Wörter: »Wir sind das Volk«.

So oft, wie dieser Satz gerade im letzten Jahr zitiert wurde und so einfach seine Botschaft auch sein mag, so richtig zur Geltung kommt sie erst, wenn es konkret wird - wie ganz aktuell am Beispiel der Proteste gegen das Großbauprojekt »Stuttgart 21«. Für und Wider des Themas sind zu komplex, um sie an dieser Stelle zu beleuchten, was den gemeinen Ostdeutschen wie mich jedoch erstaunt haben dürfte, ist die Verwendung »unserer« Parole, die auf den ersten Blick so gar nicht zum Aufbegehren braver schwäbischer Bürger passen mag.

Dabei ist doch trotz der unterschiedlichen Anlässe, Protagonisten und Protestadressaten gerade deren Vereinnahmung in Verbindung mit den wöchentlich stattfindenden »Montagsdemonstrationen« eine zwar späte, dafür aber absolut ungekünstelte Anerkennung ostdeutscher Demokratiebestrebungen - für mich ein kleiner, aber wichtiger Baustein hin zu mehr gegenseitigem Verständnis, Solidarität und letztlich echter Einheit.

Klaudia Naceur
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