Grün-As

Alaskas Paradies

Kayak-Abenteuer im Glacier Bay Nationalpark

Rings um uns ist Eis. Es kracht an den Bug unseres winzigen Kayaks und schabt scharfkantig an seinem Rumpf entlang. Das Geräusch jagt mir einen Schauer über den Rücken. Lydia dreht sich erschrocken um, denn ich bin der Steuermann. Aber das Eis ist jetzt so dicht, dass ich Kollisionen kaum noch vermeiden kann. Ich komme mir vor wie in einem überdimensionalen Caipirinia. Schuld daran ist der riesige Gletscher vor uns. Seine Abbruchkante schiebt sich in die Bucht und »kalbt«. Gewaltige Mengen Eis brechen von ihm ab und stürzen donnernd ins Wasser. Ein infernalisches Schauspiel, dass wir uns nicht entgehen lassen wollen. Aber wir hatten nicht vor, deswegen gleich unser Boot aufs Spiel zu setzen. Denn obwohl wir hier am Ziel unserer Kayaktour angelangt sind, liegen immerhin noch 100 Kilometer Rückweg vor uns.

Da hatte es der englische Kapitän Georg Vancouver vor 200 Jahren wesentlich leichter. Als er die Küste Südostalaskas erkundete, mußte er keinen Meter in eine Bucht fahren, um jenen Gletscher zu sehen. Denn dieser mündete damals direkt in den Golf von Alaska und füllte die Bucht vollständig aus. Was für eine Veränderung hat sich an dieser Landschaft in der kurzen Zeit vollzogen! Fast unvorstellbar, mit welcher Geschwindigkeit der Gletscher abschmolz und die Tier- und Pflanzenwelt Besitz ergriff von dem neu entstandenen Lebensraum. Am Eingang des heutigen Glacier Bay Nationalparkes gedeiht ein prächtiger Regenwald, bevölkert von Elchen, Wölfen und Bären. In der Bucht tummeln sich Otter, Seelöwen und nicht selten trifft man auf Orcas und Buckelwale. In den Flüssen, welche in die Bucht münden, wimmelt es nur so von Forellen und Lachsen.

In diesem Naturparadies sind Lydia und ich im letzten Sommer mit einem Kayak unterwegs. Startpunkt ist Gustavus, ein winziges Fischerdorf nur 10 Flugminuten von Juneau, Alaskas Hauptstadt, entfernt. Unser Ziel ist die Durchquerung der gesamten Bucht bis an ihr über 100 Kilometer entferntes hinterstes Ende. Dort münden die mächtigen Gletscherströme, die uns magisch anziehen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Fast 400 Paddelkilometer und fünf Wochen Wildnis und Einsamkeit liegen vor uns. Uns klingen noch die Schauergeschichten von Dauerregen, widrigen Winden und meterhohen Wellen in den Ohren, die wir vor unserer Abfahrt bei den Fischern gehört haben. Wochenlang schon sollen Kayaker weit im Landesinneren vom schlechten Wetter festgenagelt worden sein.

Unser Boot ist überladen, obwohl wir besonders beim Essen äußerst knapp kalkuliert haben. Anfangs macht uns tatsächlich der Regen zu schaffen. Die ersten beiden Wochen gießt es fast ohne Unterlaß. Wie tapfer Lydia ist! Sie haßt Regen. Noch schlimmer ist der Wind. Bei Gegenwind kommen wir oft überhaupt nicht vorwärts. Trotzdem lassen wir uns nicht abschrecken, machen uns die Gezeiten zu nutze. Während wir landeinwärts unterwegs sind, hilft uns die Flut. Das Wasser strömt vom offenen Meer in die Bucht und wir mit ihm. Und die grandiose Natur entschudigt ohnehin für alle Schwierigkeiten. An unserem Boot vorbei gleitet die abwechslungsreichste Landschaft, die ich je sah. Hier gibt es alles zugleich: Meer, Gletscher, Regenwald, Berge. Wir fahren auf das höchste Küstengebirge der Welt zu. Bis auf 5000 Meter erheben sich die Berge am Ende der Bucht direkt aus dem Meer.

Ihr Anblick erinnert mich an den Himalaya. Doch nicht einmal dort gibt es so enorme Höhenunterschiede. Wegen der Grizzlys zelten wir jeden Tag weit draußen auf den Inseln mitten in der Bucht, manchmal fünf und mehr Kilometer vom Festland entfernt. Warum sollten die Bären soweit durch das Eiswasser schwimmen? Hier im Glacier Bay Nationalpark darf der Besucher keine Waffe bei sich haben. Wir hätten den Grizzlys, die es hier in großer Zahl geben soll, aus dem Weg zu gehen, meinten die Ranger in der Nationalparkverwaltung. Leichter gesagt als getan. Eines Morgens beim Frühstück am Strand kommt ein kapitaler Braunbär direkt auf uns zugeschwommen und steigt genau dort aus dem Wasser, wo unser Zelt steht. Ich hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst. Lydia jedoch redet auf ihn ein und rudert wie ein Fluglotse mit den Armen. Sie will ihm klarmachen, dass wir sprechen können und kein Geweih haben, somit also nicht auf seinem üblichen Speiseplan stehen. Gott sei Dank verstehen sich die beiden, und er macht sich aus dem Staub.

Eine andere Begegnung mit einem Bewohner der Bucht gehört zum Aufregendsten, was mir je widerfuhr. Die See ist völlig ruhig an diesem Tag, die Sonne scheint, kein Lüftchen regt sich, und nur das Plätschern unserer Paddel im Wasser ist zu hören. Plötzlich jedoch wird die spiegelglatte Wasserfläche von einem gewaltigen Körper zerteilt. Ein ungeheurer Koloß kommt zum Vorschein, so riesig und nah, dass mir der Atem stockt und die Haare zu Berge stehen. Ein unbeschreibliches Gefühl des Entsetzens und der Freude zugleich packt mich, und ich erstarre zur Salzsäule. Entsetzt, weil ich mir der Gefahr bewußt bin. Ein solch gewaltiges Tier merkt es nicht einmal, wenn es unsere winzigen Kajaks unter seinem Riesenleib begräbt. Doch die Angst weicht fast augenblicklich grenzenloser Freude. Ein derartiges Schauspiel bekommt man wohl nur ein einziges Mal im Leben geboten. Der über 15 Meter lange Buckelwal hatte uns mit seinem Sprung gezeigt, wer die Herrscher über die Glacier Bay sind.

Schon nach einer Woche sichten wir die ersten in der Bay treibenden Eisberge, noch fünfzig Kilometer von den Gletschern entfernt. Doch dass wir eines Tages zwischen ihnen festsitzen könnten, war nicht geplant. Ich warte jeden Moment darauf, dass irgendwo Wasser ins Boot eindringt und wir womöglich ein unfreiwilliges Bad nehmen müssen. Lydia schiebt mit dem Paddel die Eisbrocken beiseite, ich manövriere uns behutsam durch die freiwerdende Gasse. Wir sind auf der Suche nach einem Zeltplatz am Ufer. Als wir endlich anlanden können, hat unser braves Kayak zwar ein paar Schrammen aber kein Leck. Der Rückweg nach Gustavus ist also gesichert.

Noch näher an den sagenhaften John Hopkins Gletscher heranzufahren, wäre lebensgefährlich, zu Fuß haben wir aber eine gute Chance. Wir wollen ihm beim »Gebären« so nah wie möglich sein, denn er ist einer der aktivsten Gletscher der Welt. Täglich stürzen zwei bis drei Millionen Tonnen Eis ins Meer, manchmal mehrere zehntausend Tonnen auf einen Schlag. Das entspricht gleich dutzenden Völkerschlachtdenkmälern aus Eis. Das Getöse ist ohrenbetäubend. Nicht umsonst nannten die Indianer die Bucht »Donnerbay«.

Olaf Rieck
Infos:
Der Glacier Bay Nationalpark gilt seit 1992 als Weltnaturerbe, seit 1996 Bioshärenreservat
Lage:Südosten Alaskas, 100 km westlich von Juneau
Fläche:140000 km2
Reisezeit:Mai bis September
Anreise:über Ancorage und Juneau nach Gustavus mit Alaska Airline
Klima:feucht maritim, sehr hohe Niederschlagswahrscheinlichkeit
Temperatur:zwischen 5 und 15 Grad Celsius
Kleidung:Regenzeug (Ostfriesennerz), Gummistiefel, warme Unterwäsche, Handschuhe, Mütze unbedingt erforderlich
Bootsverleih:Bartlett Cove (16 km von Gustavus entfernt, Busverbindung) Glacier Bay Sea Kayak, Tel.: 1 907 697 2267, Preis 35 $ pro Kajak und Tag
Unterkunft:Gustavus mehrere kleine Lodgen, Bartlett Cove eine sehr gute Lodge, kostenloser Campingplatz
Für weitere Informationen schreiben Sie an : Superintendent, Glacier Bay National Park and Preserve, P.O. Box 140, Gustavus, AK. 99826-0140 oder rufen unter folgender Nummer an: 1907 697 2230
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