Grün-As
Leipzig Grün-As Stadtteilmagazin

Mordshunger

Eine Mord- und Heimatgeschichte des Grünauer Autors Jürgen Leidert
Teil 4

Die Schreie meines Cousins waren nicht zu überhören, Tante Marla und meine Mutter Luise waren deshalb schnell zur Stelle, brachten einen Verband und wickelten die Mullbinde um Gunters Stirn, seine letzten Tränen waren schnell getrocknet. Alle schimpften mit dem großen Peter, aber wir brauchten ihn, um uns den Bauernkindern gegenüber durchzusetzen. Uns sollte er mit solchen Wutausbrüchen aber verschonen.

»Du riesengroßes Rindvieh«, wetterte Gunter. Peters Mutter Erna Schmidt hatte mitbekommen, dass ihr Sohn die Misere veranlasst hat. Tante Marla sagte zur 'Schmidten', »so geht es nicht, sie müssen schon ihren Jungen beibringen, dass er sich mit den Kindern verträgt, schließlich ist das nicht der erste Vorfall.«

»Ja, ich habe ihm das schon oft gesagt, manchmal ist er wie ein Ochse, stur und widerspenstig«, und an ihn gewandt, »ich werde all deinen Bastelkram in den Ofen schmeißen! – Er wollte immer ein harter Kämpfer werden, hart wie Kruppstahl. Aber die harten Kerle, Kämpfer unserer Wehrmacht im Feld konnten auch nicht verhindern, dass nun der Krieg vor der Haustür stattfindet! Frau Lünemann, haben Sie es schon bemerkt, dass gestern beim nächtlichen Luftangriff, ein Flieger den Schornstein Ihres Hauses erwischt hat? Die Esse ist halb weggerissen, sicher ist auch das Dach in Mitleidenschaft gezogen worden!«

Alle besichtigten nun den Schaden von unten. »Seht mal«, sagte ich, »da liegen ganz schöne Bruchstücke auf dem Ziegeldach und ein Loch hat es auch!« Und Freddy meinte: »Da muss aber der Flieger auch nicht ungeschoren davon gekommen sein!« Meine Mutter sehr erregt zu ihrer Schwester: »Wenn es regnet, kann es großen Schaden am Haus anrichten, falls das Dach nicht bald repariert wird, wer kann jetzt schon so was in Ordnung bringen, wo die meisten Männer an der Front sind!? – Das kann dauern.«

Sie ging mit Tante zurück ins Haus, mittlerweile hatte sich nun auch der Peter auf dem Hof eingefunden und sich bei Gunter entschuldigt: »Ich habe keinen treffen wollen, aber ihr habt ja mich erst provoziert.«
»Schon gut«, gab Gunter kurz zurück. »Sehen wir doch mal über die Straße auf Bauer Bluetners Feld, ob er nach der Ernte ein paar Kartoffeln uns übrig ließ, dann könnten wir in einem Feuerchen welche schmoren. Vielleicht hat auch der Flieger etwas auf seinem Feld beim Überflug verloren!?«

Bald hatten wir einige Hände voll kleiner Kartoffeln gefunden und mit getrockneten Kartoffelkräutern ein Feuer zum Rösten angezündet, uns darum gehockt; das war so richtig gemütlich und nach unserem Geschmack in der Dämmerstunde. Mit einem Stöckchen wandte Irene und Fred die Erdäpfel im Feuer. »Hoffentlich gibt's bald was zu beißen«, murmelte Peter, »mein Magen knurrt schon in freudiger Erwartung«. »Du musst warten bis sie gar sind, hast ja dir heute ohnehin nicht gerade viel verdient!«, warf Irene ein.

Peter stand auf und spazierte in immer größerem Kreis um unsere Runde mit dem Knäckerchen. Plötzlich schrie er herzzerreißend auf, er zeigte auf den Boden vor ihm, sein Gesicht fahl und blass wie ein Leichentuch. Da lag der Pilot! Abgestürzt, und der Tommy, wie wir die Briten nannten, in der Fahrerkabine im eignen Blut in seiner khakifarbenen Uniform.

Wie aus einer Kehle schrien wir: »Hilfe, ein Toter!« Fred rief: »Wir müssen hier weg, da kommt Richard Bluetner mit seinem Schäferhund, der Großbauer und Geizhals, er hat unser Kartoffelfeuer schon mitbekommen.« Peter trat das Feuer aus, nahm die gerösteten Kartoffeln in die Hosentasche, so heiß, wie sie waren und rannte davon.


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